Liebe Petra,
dein Buchtipp kommt mir äußerst gelegen, denn ich hatte in letzter Zeit kein gutes Händchen bei der Auswahl meiner Bücher. In einem ging es um eine Amour fou mit beträchtlichem Altersunterschied. War so gar nicht meins, auch wenn abgesehen von dieser Liebesgeschichte das Buch inhaltlich und sprachlich vermutlich echt gut war. Aber eine Liebesgeschichte zwischen einem ach so intellektuellen Mittfünfziger und einer 19-Jährigen. Das finde ich so unangebracht, da kann ich dann echt nicht drüber hinwegsehen in Zeiten von „Me Too“.
Das andere Buch hätte mich zwar geschichtlich sehr interessiert, weil es die Besetzung Äthiopiens durch Mussolini thematisiert. Ich war aber irgendwann nur noch am Googeln nach den geschichtlichen Hintergrundinformationen, die ich mir eigentlich beim Lesen des Romans erhofft hatte. Also kurz gesagt, bei diesem Buch hat sich gezeigt, dass bei mir durchaus noch geschichtlicher Bildungsbedarf besteht.
Auf das Buch, das ich dir jetzt vorstellen möchte, bin ich Anfang dieses Jahres gestoßen.
Ich war auf der Suche nach einem guten deutschen Jugendbuch für C. Du weißt ja, dass sie lieber Bücher auf Englisch liest. Um sie davon zu überzeugen, ein Buch auf Deutsch zu lesen, muss dieses schon richtig gut sein, so wie „Kein Teil der Welt“ von Stefanie de Velasco. Eigentlich ein Jugendbuch, aber auch als Erwachsener kann man es nicht aus der Hand legen.
Kein Teil der Welt ist die Protagonistin Esther, die mit ihren Eltern in der Wahrheit lebt, so zumindest drücken es die Zeugen Jehovas selbst aus.
Esther zieht kurz nach der Wende mit ihren Eltern nach Ostdeutschland in das Heimatdorf ihres Vaters. Ihre Eltern wollen dort eine neue Gemeinschaft der Zeugen Jehovas aufbauen. Esther will das alles nicht. Weder möchte sie in einem kleinen Ort irgendwo im Osten Deutschlands leben, noch möchte sie missionieren gehen. Bei den Zeugen Jehovas nennt sich das Predigerdienst und es wird wohl genau Buch geführt, wie viele Stunden man sich diesem widmet.
Esther jedoch hegt immer mehr Zweifel am Glauben, der ihr von klein auf aufgezwungen wurde. Gleichzeitig merkt sie, dass eine Diskussion mit ihren Eltern oder anderen Gläubigen unmöglich ist, da Zweifel immer darauf zurückgeführt werden, dass man von Satan auf den falschen Weg geführt wurde.
In Rückblicken erfahren wir, dass Esther dem eigenen Glauben nicht immer so kritisch gegenüberstand und vor allem lernen wir Sulamith, Esthers bester Freundin, kennen, mit der sie irgendwo in Westdeutschland wie eine Schwester aufgewachsen ist.
Sulamith ist es, die an einem Punkt, als Esther den eigenen Glauben noch in keiner Weise hinterfragt, beginnt kritische Fragen zu stellen. Sie möchte ein normales Teenagerleben führen. Dies wird dadurch verstärkt, dass sie sich in Daniel verliebt, der nicht bei den Zeugen Jehovas ist.
Esther versteht Sulamiths Zweifel zunächst nicht. Sie möchte einfach, dass alles so bleibt, wie es immer war. Vor allem möchte sie ihre beste Freundin nicht verlieren.
Die Geschichte um Sulamith erfahren wir in Rückblenden und es ist klar, dass Esthers Zweifel am Glauben, ihre Rebellion, mit den Dingen zusammenhängt, die in der Vergangenheit passiert sind.
Aber nicht nur die Geschichte um Sulamith und Esther ist unglaublich spannend zu lesen. Es ist auch interessant zu sehen, wie wenig Raum für Diskussion in einer fundamentalistischen Glaubensgemeinschaft wie der der Zeugen Jehovas letztendlich besteht. Und wie sich die Mitglieder beim Predigerdienst besonders auf die Einsamen stürzen, die ihnen als leichte Beute erscheinen.
Die Autorin Stefanie de Velasco ist selbst als Zeugin Jehovas aufgewachsen und hat die Glaubensgemeinschaft mit ca. 15 Jahren verlassen, so dass man einen sehr authentischen Einblick bekommt, wie es wohl sein muss, als Zeuge Jehovas aufzuwachsen.
In ihrem ersten Buch Tigermilch schreibt die Autorin folgenden Satz: „Glauben ist, wenn man will, dass Sachen stimmen, von denen man eigentlich weiß, dass sie unmöglich sind.“ Und vielleicht fasst ja dieser Satz bereits das Dilemma zusammen, in dem man sich befindet, wenn man einer Glaubensgemeinschaft angehört, die allzu eng gesteckte Regeln hat.
Zeugen Jehovas kenne ich in meinem näheren Umfeld keine. In China habe ich jedoch sehr viele Mormonen kennengelernt, die übrigens, anders als es uns Super RTL & Co vermitteln wollen, sehr monogam sind, aber auch einem ähnlich rigiden Glaubenssystem wie die Zeugen Jehovas anhängen. Das waren mit die nettesten Menschen, die ich kennengelernt habe. Wir waren sogar bei einem Osterfest bei ihnen eingeladen. Und man kann schon verstehen, was für viele Menschen so anziehend ist, einer solchen Glaubensgemeinschaft anzugehören. Da ist zum einen der Zusammenhalt untereinander zu nennen. Und dieser unerschütterliche Glaube an die Existenz Gottes macht einem ja auch vieles leichter. Aber dann gibt es die vielen Regeln, die man als Außenstehender nicht verstehen kann. Also keine Sorge, ich habe nur mal ca. 5 Minuten lang überlegt, Mormonin zu werden, weil die mormonischen Freunde, die ich in China kennengelernt habe, wirklich ausgesprochen nette und freundliche Menschen sind. Und nett sein ist ja nicht verkehrt. Aber wenn man dann weiter forscht, was alles Teil des mormonischen Glaubens ist, kriegt man das oft gar nicht so richtig zusammen mit den modernen, aufgeschlossenen Menschen, die man kennengelernt hat. Für mich war die Idee eine Mormonin zu werden wie gesagt nur von sehr kurzer Dauer, denn du glaubst es nicht, Mormonen dürfen keinen Kaffee trinken. Und jeder, der mich kennt, weiß, dass das für mich undenkbar ist. Und ich wage zu behaupten, dass ich ja sowieso zumeist ein netter Mensch bin.
In diesem Sinne schicke ich dir eine wie immer freundliche und dicke Umarmung aus dem immer noch sonnigen Venetien!
Liebe Grüße
Deine Uli

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INFOS ZUM BUCH
Titel: Kein Teil der Welt
Autorin: Stefanie de Velasco
Verlag: Kiwi Taschenbuch
Erschienen: 10.09.2020
ISBN: 978-3462001259
Umfang: 432 Seiten
Preis: 12,00 Euro (Paperback), 9,99 Euro (Kindle)
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