Emi Yagi: Frau Shibatas geniale Idee

Liebe Uli,

nun bin ich aber froh, dass du keine Mormonin geworden bist. Ich finde zwar auch, dass gläubige Menschen oft unglaublich nett sind, und ich kann mir vorstellen, wie gut es tut, sich so einer starken Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Auch bin ich sicher, dass tägliches Beten und regelmäßiges Fasten immer einen Mehrwert haben. Aber wenn ich an meinen nächsten Besuch bei dir denke und mir vorstelle, wie du an deinem Früchtetee nippst, während ich meinen Aperol Spritz genieße… Da fehlt sogar mir die Fantasie.

Um Fantasie und Glauben geht es auch in meiner heutigen Buchempfehlung. In letzter Zeit habe ich relativ viel gelesen und hatte offenbar mehr Glück als du. Es waren einige wirklich gute Bücher dabei. Manche, wie z. B. Marco Balzanos „Wenn ich wie wiederkomme“ oder auch „Shuggie Bain“ von Douglas Stuart, werden demnächst hier in unseren Kurzrezensionen erscheinen, aber eines möchte ich dir unbedingt in meinem heutigen Brief empfehlen, nicht nur wegen des einzigartigen Themas, sondern auch, weil der Schauplatz Japan ist. Genauer gesagt Tokio. Da mein Großer sich gerade sehr für Japan interessiert, habe ich ein bisschen um das Thema herum recherchiert. Dass die japanische Arbeitswelt hart ist, war mir bekannt, dass es jedoch sogar einen Begriff für einen beruflich begründeten Tod durch Stress und Überlastung gibt – der sogenannte Karoshi – hatte ich noch nie gehört.

In Emi Yagis Roman „Frau Shibatas geniale Idee“ geht es um eine alleinstehende 34-jährige Akademikerin, die in einer großen Firma arbeitet, wo sie in einem männlichen Team ausgenutzt und wie selbstverständlich zum Kaffeekochen, Aufräumen und anderen unbeliebten niederen Diensten verpflichtet wird. Sie macht dies eine Weile mit, aber eines Tages wird es ihr zu viel und sie widersetzt sich mit der einzig möglichen Begründung: Ihre Schwangerschaftsübelkeit mache es ihr unmöglich, die Küche mit kaltem Kaffee- und Zigarettengeruch aufzuräumen. Dieser Grund wird akzeptiert und Frau Shibata von da an anders behandelt. Die Männer übertragen das Kaffeekochen einem jungen Absolventen von der Uni und der ist erstaunt, wie leicht es ist, Instantkaffee aufzubrühen. Frau Shibata darf nun pünktlich Feierabend machen, also jeden Tag zwei bis drei Stunden früher nach Hause gehen. Zunächst genießt die junge Frau es, am frühen Abend und nicht erst wie sonst spät in der Nacht von der Arbeit heim zu kommen, und sie nutzt den „frühen“ Dienstschluss für „luxuriöse“ Unternehmungen, wie z. B. Einkaufen, Kochen, Baden. Doch nach und nach realisiert sie, was ihre Lüge nach sich zieht und eine Schwangerschafts-App hilft ihr von da an bei ihrem Schauspiel, das sich immer mehr verselbstständigt…

Viel mehr möchte ich nicht verraten, denn ich war beim Lesen selbst unheimlich gespannt, wie Frau Shibata aus dieser Nummer wieder herauskommt. Das ist allerdings so unglaublich, dass ich das Buch tatsächlich zweimal gelesen habe, um sicher zu gehen, dass ich nichts verpasst habe.

Der Roman hat etwas Magisches und Surreales, ist aber dabei extrem präzise und sehr gesellschaftskritisch. Die Trostlosigkeit und Unmenschlichkeit der Arbeitswelt, die verkrusteten patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft, die Einsamkeit der Großstadtmenschen und vor allem die Nöte von Müttern werden so klar und gleichzeitig poetisch beschrieben, dass man sie selbst spüren kann. Wenn man wollte, könnte man kritisieren, dass der Arbeitgeber unrealistischerweise nie einen Nachweis für die Schwangerschaft fordert. Doch es geht hier meiner Meinung nach nicht um die Wiedergabe von Realitäten. Der Roman ist vielmehr ein Gegenentwurf dazu, indem er das Unwahrscheinliche wahr werden lässt: Tabubrüche in Form von offenen Klagen und Solidarität unter Frauen. Eine Schlüsselszene ist hier ein zufälliges Treffen von Frau Shibata und einer Freundin, die gerade Mutter geworden ist und ihr Schreikind auf der Straße herumträgt um es zu beruhigen. Die Wut der beiden Frauen darüber, mit allen ihren Sorgen alleine gelassen zu werden und nach den Vorstellungen anderer leben zu müssen, brechen sich Bahn in einer lauten Schimpftirade, die sofort missbilligendes Zischen aus den umliegenden Wohnungen zur Folge hat. Eine wirklich starke Szene. Ich fand das Buch sehr aufwühlend und kann es uneingeschränkt empfehlen. Hoffentlich geht es dir auch so.

Ich grüße dich ganz herzlich aus dem herbstlichen Bayern!

Deine Petra

*AFFILIATE LINK. Über den Link oben kannst du das Buch gerne bestellen. Wir bekommen dann eine kleine Provision, dir entstehen dadurch aber keinerlei Mehrkosten.

INFOS ZUM BUCH

TITEL: FRAU SHIBATAS GENIALE IDEE
AUTORIN: EMI YAGI
ÜBERSETZUNG: LUISE STEGGEWENTZ
VERLAG: ALTANIK

Erschienen: 05.10.2021

ISBN: 978-3455012590

Umfang: 208 Seiten

Preis: 21,00 Euro (gebundene Ausgabe)

Hinweis: „Frau Shibatas geniale Idee“ wurde mir umsonst von netgalley.de und dem Atlantik Verlag zur Verfügung gestellt.

Möchtest du noch mehr Rezensionen lesen? Schau auch zu unseren Kurz-Rezensionen.

Dort findest du auch diese Rezension:

Als ich vor mehreren Jahren zum ersten Mal den Mehrteiler Verkaufte Heimat von Karin Brandauer gesehen habe, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie wenig wir von Südtirols schwieriger Geschichte wissen.

Klicke für die ganze Rezension auf das Bild links.

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