Liebe Petra,
unser Geschmack, was Bücher betriff, ist sich doch in vielem ähnlich. „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun liebe auch ich sehr. Ich denke noch allzu gern daran zurück, wie ich die von dir erwähnte Hörbuchfassung mit Fritzi Haberlandt anhörte, während ich den Kinderwagen durch den Wittelsbacher Park schob. Eine schöne Erinnerung!
Hörbücher liebe ich noch immer so sehr wie damals, besonders um mir lange Autofahrten zu verkürzen, aber auch um mich bei eher lästigen Haushaltspflichten gleichzeitig doch noch irgendwie intellektuell zu betätigen. Zuletzt haben mir Nele Neuhaus mit “In ewiger Freundschaft“ und Dora Heldt mit „Geld oder Lebkuchen“ die Fahrt von Italien nach Deutschland und zurück verkürzt. Ich gestehe, beide Bücher sind nicht sehr intellektuell, aber doch spannend bzw. unterhaltsam.
Und dann war ich in den letzten Wochen beim Lesen thematisch auch noch irgendwo zwischen Deutschland, Vietnam und der vietnamesischen Diaspora in den USA. Und das mit gleich zwei Romanen, die ich dir beide unbedingt ans Herz legen möchte.
In „Wo auch immer ihr seid“ erzählt Khuê Pham die Geschichte einer vietnamesischen Familie. Die Eltern der Protagonistin Kim kamen wie die der Autorin Khuê Pham 1968 zum Studium nach Deutschland. Ihre Wurzeln kennt Kim kaum und sie interessiert sich auch nicht sonderlich dafür. Als sie und ihre Eltern vom amerikanischen Zweig der Familie wegen eines Trauerfalls kontaktiert werden, beginnt für Kim eine Reise in die Vergangenheit. Wir erfahren, weshalb die Eltern in den 60er-Jahren nach Deutschland gekommen sind und wieso es den Rest der Familie in die USA verschlagen hat, aber auch, wie es zu dem Zerwürfnis der Familie kam. In Rückblenden erleben wir das Saigon ihres Vaters in den 60ern und das ihres Onkels in den 70ern. Besonders interessant fand ich, dass man gerade an den unterschiedlichen Lebensläufen der Brüder sehen kann, dass die Positionierung zum Vietnamkrieg oft nur von unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen abhängt, oder im Fall der Brüder auch vom Zeitpunkt, an dem man das Land verlassen hat. Abgesehen von dieser historischen Ebene ist es auch spannend, zu sehen, in welch unterschiedlichen Welten vietnamesische Emigrant*innen in Deutschland und in den USA leben. Während es sich bei jenen in Deutschland vornehmlich um eine gut integrierte kleine Gruppe handelt, sind es in den USA so viele, dass es leicht ist, innerhalb dieser Gruppe Traditionen und Gewohnheiten beizubehalten, was dann vermutlich wieder auf Kosten der Integration geht.
Ein absolut empfehlenswertes Romandebüt der Autorin Khuê Pham, das Einblicke in die vietnamesische Vergangenheit gibt, aber auch zeigt, wie es ist, in einem anderen Land aufzuwachsen oder besser gesagt, wie es sein kann. Gerade der deutsch-amerikanische „clash of cultures“ sorgt für humorvolle Momente in dem lesenswerten Buch, das gleichzeitig auch für einen einfachen, leicht zu lesenden Einstieg in die Thematik Vietnam bzw. Vietnamkrieg, aber auch Immigration sorgt.
Ein weiteres Buch mit ähnlicher Thematik, das mich sehr begeistert hat, ist „Auf Erden sind wir kurz grandios“ von Ocean Vuong. Sprachlich und inhaltlich anspruchsvoller als das zuvor besprochene Buch, was vielleicht damit zu tun hat, dass der junge Autor Ocean Vuong zuvor hauptsächlich Gedichte geschrieben hat. Das merkt man bei der Lektüre des Buchs. Ich hätte mir vorher nicht vorstellen können, dass man die grausamen Erfahrungen des Vietnamkriegs und die Emigration einer vietnamesischen Familie in die USA so einzigartig poetisch und zart darstellen kann. Die Geschichte mit autobiografischen Zügen wird in Form eines langen Briefs des Ich-Erzählers „Little Dog“ an seine Mutter erzählt. Die Mutter wird diesen Brief nie lesen, denn sie ist des Lesens nicht mächtig. Es ist keine einfache Kindheit und schon gar keine einfache Vergangenheit, von der der Sohn erzählt. Eine Mutter, die die Sprache des neuen Landes nicht beherrscht, versucht sich dort durchzuschlagen. Die Traumata des Vietnamkriegs hat sie nicht verarbeitet und wird es wohl auch nie. Dazu bleibt auch kaum Zeit, wenn man sich und seine Familie mit einem schlecht bezahlten Job im Nagelstudio über Wasser halten muss. Ihre Überforderung wird offenbar, wenn sie den Sohn verprügelt. Dennoch haben wir, hat der Sohn Empathie mit dieser Frau, die in der Mall unbedingt wissen muss, ob das weiße Kleid, das sie kaufen möchte, feuerfest ist. ‚Eine seltsame Frage‘ denkt man beim Lesen zunächst, bis sich einem unwillkürlich die schrecklichen Bilder der Menschen aufdrängen, die bei den Napalm-Angriffen nackt vor dem Feuer flüchteten. Oft sind es gerade die kleinen Nebensätze, die in diesem Buch so bedeutungsvoll sind, dass es sich immer wieder lohnt zurückzublättern.
Doch nicht nur von der Mutter des Protagonisten handelt der lange Brief, sondern auch von den Erfahrungen der inzwischen schizophrenen Großmutter in Vietnam und den USA, von der ersten Liebe des Protagonisten zu Trevor. In Fragmenten erzählt Vuong die verschiedenen Zeitebenen und Erzählstränge. Auch deswegen muss man immer wieder einmal zurückblättern und nachlesen. Sicherlich keine ganz einfache Lektüre, kein Buch, das man in einem Rutsch durchliest, aber ein wirklich „großer“, absolut lesenswerter Roman.
Die bevorstehenden Weihnachtsferien werde ich jetzt hauptsächlich dazu nutzen, meinen SUB abzubauen und vielleicht auch ein bisschen nach lateinamerikanischen und australischen Autoren forschen. Von dort haben wir meines Wissens bisher noch keine Bücher vorgestellt und wir wollen ja schließlich die Welt erlesen.
Frohe Weihnachten, liebe Petra,
Deine Uli

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Infos zu den Büchern
Titel: Wo auch immer ihr seid
Autor: Khuê Pham
Verlag: btb
Erschienen: 13.09.2021
ISBN: 978-3442758029
Umfang:304 Seiten
Preis: 22 Euro (Hardcover)
Titel: Auf Erden sind wir kurz grandios
Autor: Ocean Vuong
Übersetzerin: Anne-Kristin Mittag
Verlag: btb
Erschienen: 14.09.2021
ISBN: 978-3442770083
Umfang: 272 Seiten
Preis: 11 Euro (Taschenbuch)
„Wo auch immer ihr seid“ und „Auf Erden sind wir kurz grandios“ wurden mir als Rezensionsexemplare vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt.
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