Liebe Petra,
die Länder der ehemaligen Sowjetunion sind in den letzten Tagen durch den Krieg in der Ukraine leider stärker in unser Bewusstsein gerückt, als wir uns das vorstellen wollten. Gerne würde ich schreiben, dass jetzt wohl der Letzte in Deutschland und Italien (um jetzt nur mal von den beiden Ländern zu sprechen, in denene wir leben) kapiert haben müsste, dass wir hier nicht in einer Diktatur leben. Aber es scheint, dass die Schnittmenge der Impfverweigerer und Putin-Versteher nicht gegen null tendiert.
Ich jedenfalls finde, die ganze Welt hätte 2022 endlich einmal eine Pause verdient gehabt. Ein Jahr, in dem die ‚Tagesschau‘ und das ‚Heute Journal‘ nur mit Schwierigkeiten irgendetwas Negatives, Trauriges oder Schreckliches gefunden hätten, worüber sie berichten könnten.
Und dennoch ist deine Idee, mehr Literatur der ehemaligen Sowjet-Staaten und Osteuropas zu lesen, fabelhaft. Es ist so wichtig, zu sehen, dass die Menschen eines Landes nicht automatisch mit der dort herrschenden Politik gleichgesetzt werden dürfen, wie man am Beispiel von Sasha Filipenko, aber auch an dem von vielen anderen Menschen, sei es im Kulturbetrieb oder in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, sieht.
Und so werde auch ich innerhalb unserer literarischen Weltreise 2022 nicht nur nach südamerikanischer Literatur Ausschau halten, sondern versuchen, in möglichst viele Länder zu reisen, natürlich auch nach Osteuropa, wo hoffentlich bald wieder friedliche Zeiten anbrechen.
In meiner Leseempfehlung diesmal geht es „nur“ nach Frankreich. Ich habe das Buch bereits Anfang dieses Jahres gelesen, es ist jedoch erst diese Woche erschienen, so dass ich warten musste, bis ich es dir ans Herzen legen konnte. Das Buch führt uns in die Welt der Influencer und ist ganz und gar nicht so banal, wie es dieses Thema vermuten lässt:
Die Protaginistin Mélanie Claux hat es Anfang der 2000er nicht geschafft, in einem Big Brother ähnlichen Format groß herauszukommen. Ihre zweite Chance auf Ruhm verwirklicht sie nun mittels Social Media und ihrer Kinder Sammy und Kimmy, die Stars ihres Youtube- und Instagram-Kanals sind und der Familie dadurch zu einem mehr als komfortablen Leben verhelfen.
Doch auf einmal ist Kimmy wie vom Erdboden verschluckt. Gibt es Neider, vielleicht gar Betreiber weniger erfolgreicher Vlogs, die ihr den Erfolg nicht gönnen? Die Polizei steht vor einem Rätsel, da auch eine Lösegeldforderung auf sich warten lässt. Und schon wähnt man sich als Leser*in mitten in einem spannenden Krimi, bei dem die Schattenseiten und Absurdität der Omnipräsenz in den sozialen Medien beleuchtet werden, und aufgezeigt wird, welch enormem Druck gerade Kinder durch Eltern ausgesetzt sind, die diese lukrative Art der Vermarktung des eigenen Lebens als Einkommensquelle entdeckt haben.
Und während man noch rätselt, wer die kleine Kimmy entführt haben könnte, löst sich der Fall relativ unvermittelt und abrupt und der Roman entwickelt sich vom Krimi zu, ja wozu eigentlich. Wir werden auf einmal ins Jahr 2031 katapultiert, eine Art Dystopie also? Eher nicht. Die Zukunft, die ausgemalt wird, ist allzu plausibel. Der Zeitsprung ist dennoch notwendig, werden in diesem Teil doch die möglichen Auswirkungen aufgezeigt, die die ständige mediale Präsenz auf die jungen Youtube-Stars haben kann.
Ein großartiger, brillant geschriebener Roman, den man nicht aus der Hand legen kann. Als einzigen winzig kleinen Kritikpunkt möchte ich anmerken, dass ich den Übergang von der „Krimihandlung“ ins Jahr 2031 etwas unvermittelt fand und mich zunächst fragte, ob der Roman schon beendet sei und ich vielleicht die Leseprobe zu einem anderen Buch vor mir liegen habe. Andererseits ist es doch gerade hervorragend, wenn eine Autorin nicht die eigenen Leseerwartungen erfüllt und einen überrascht. Der Roman hat mich allerdings mehr als nur überrascht, sondern wirklich begeistert und wird für das Lesejahr 2022 ganz sicher ganz oben in der Liste meiner Lieblingsbücher sein.
In der Hoffnung, dass dein nächster Brief schon in einer friedlicheren Welt geschrieben wird.
Eine dicke Umarmung
Deine Uli

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TITEL: Die Kinder sind Könige
Autorin: de Vigan, Delphine
ÜBERSETZUNG: Doris Heinemann
VERLAG:Dumont
Erschienen: 07.03.2022
ISBN-13: 978-3832181888
Preis: 23,00 Euro (gebundene Ausgabe), 17,99 (Ebook)
Umfang: 320 Seiten

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