Brief: Natascha Wodin: Nastjas Tränen

Liebe Uli,

mal wieder eine Lektüre aus Südafrika – wie spannend! Ich mag dieses Land so sehr und habe dort so viele äußerst entspannte und freundliche Menschen kennengelernt. Die Landschaft ist grandios, Essen und Wein exzellent, die Geschichte krass, die politische Situation teilweise eine Katastrophe. Wahrscheinlich braucht man eine „gechillte“ Lebenseinstellung um daran nicht komplett zu verzweifeln… Das Versprechen von Damon Galgut werde ich auf alle Fälle lesen.

Mir geht es ja auf Reisen sehr oft so, dass ich anfange, ein Land so zu mögen, dass ich mir vorstelle, dort leben zu können. Geschehen in den USA, natürlich in Italien (da bin ich ja nicht die einzige), aber auch in Großbritannien und Frankreich wollte ich schon sesshaft werden. Und natürlich in Südafrika! Ob ich das dann wirklich so gut aushalten oder doch an Heimweh erkranken würde, kann ich gar nicht sagen. Denn länger als ein Jahr war ich noch nie im Ausland. Und das auch immer freiwillig und unter guten Bedingungen.

Um Heimatlosigkeit und Entwurzelung geht es in dem Hörbuch, das ich dir heute empfehle und das mir sehr gut gefallen hat: „Nastjas Tränen“ von der Autorin Natascha Wodin. Die Autorin ist Tochter ukrainisch-russischer Eltern, die man im Zweiten Weltkrieg aus Mariupol zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert hat. Natascha Wodin wurde im letzten Kriegsjahr geboren. Sie selbst sagt: „Was ich als Kind und auch noch als Jugendliche an Diffamierung und Russenhass im Nachkriegsdeutschland erfahren habe, kann man in meinen Büchern nachlesen.“

Schauplätze in diesem Roman sind Kiew und Berlin, um den jetzigen Krieg geht es dabei logischerweise noch nicht. Allerdings ist es unglaublich interessant und aufschlussreich, die Geschichte der Ukraine, als sie noch ein Teil der Sowjetunion war, und ihre Beziehungen zu Deutschland von der Zeit des Zweiten Weltkrieges bis in die 90er Jahre besser kennenzulernen. Vieles der aktuellen Berichterstattung wird dadurch verständlicher.

Im Mittelpunkt des Romans steht Nastja, eine Bauingenieurin aus Kiew, die nach dem Zerfall der Sowjetunion nach Berlin kommt, weil sie als Bauingenieurin in der damals völlig bankrotten Ukraine nichts mehr verdienen kann. Ihr letztes Gehalt wird ihr in Form eines Sackes Reis ausbezahlt. Weil sie aber auch ihren Enkel versorgen muss, beschließt sie, in den Westen aufzubrechen, um dort das nötige Geld zu verdienen. Jahre zuvor ist ihre einzige Tochter aus denselben Gründen auch nach Deutschland emigriert. Die Lektüre macht wieder einmal deutlich, wie viele Menschen nicht in ihrer Heimat bleiben können und dass sie diese niemals leichtfertig verlassen.  

Zunächst mit einem Touristenvisum, schließlich illegal, lebt sie bei ihrer Schwester im Wohnzimmer und schlägt sich als Putzfrau durch. Dabei lernt sie die Erzählerin des Romans kennen, die unverkennbar autobiographische Züge hat, da sie wie die Autorin russisch-ukrainische Wurzeln hat und als Übersetzerin russischer Literatur arbeitet. Und hier geschieht bei einem Treffen der titelgebende Vorfall, der ansonsten sehr untypisch für Nastja ist: Beim Anhören eines ukrainischen Volksliedes bricht sie in Tränen aus. Die Erzählerin kehrt damit zu den Schrecken ihrer eigenen Kindheit zurück, da ihre im Zweiten Weltkrieg zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppte Mutter diese Entwurzelung nie verkraftet hat.

Die Geschichte wiederholt sich: An Nastjas Leben werden nun Themen wie Zwangsarbeit, Deportation, Displaced Persons, Entwurzelung und Migration vermittelt. Die einerseits sachlich-nüchterne Darstellung, aber dennoch poetische Sprache bewirken, dass man der Protagonistin Nastja sehr nahekommt und großen Anteil an ihrem Leben nimmt. Der Kulturschock, den Nastja erlebt und der sich vor allem beim Thema Essen manifestiert (Von den Fleischportionen, die Gäste in einem Restaurant vertilgen, lebt sie mit ihrem Enkel in Kiew eine Woche lang), ihre Erfahrungen in der Diktatur und die damit verbundene Angst vor Behörden, das Ertragen von Entbehrungen aller Art und das Gefühl der Minderwertigkeit werden authentisch und eindrucksvoll beschrieben.

Auch die anderen Figuren im Buch wirken lebensecht und haben Geschichten hinter sich, die allesamt in einem anderen Roman erzählt werden könnten. Wie viel Glück man selbst im Leben hatte, daran wird man beim Anhören des Romans oft erinnert. Und der Blick wird geschärft für diejenigen, die plötzlich aus existentiellen Gründen aus ihrem eigentlich ganz guten Leben gerissen werden und sich in der Fremde durchschlagen müssen. Beim Lesen des Textes trifft Martina Gedeck genau den richtigen Ton, deshalb von mir eine klare Hör- oder auch Leseempfehlung für dich!

Genieße die italienische Sonne und lass es dir gutgehen.

Ganz liebe Grüße

Petra

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INFOS ZUM HÖRBUCH:
TITEL: NASTJAS TRÄNEN
AUTORIN: NATASCHA WODIN
SPRECHERIN: MARTINA GEDECK
VERLAG: ARGON

Erschienen: 25. August 2021

ISBN:  978-3839819197

Preis: 19,95 Euro (Streaming/ Download), 21,99 (Audio-CD)

Umfang: 5 Stunden 12 Minuten

Hinweis: „Nastjas Tränen“ wurde mir umsonst als Rezensionsexemplar vom Argon Verlag und netgalley.de zur Verfügung gestellt.

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