Brief: Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Liebe Uli,

bei deiner Petition „Für ein freies Gipfelkreuz“ oder „Gegen das Verwechseln des Gipfelkreuzes mit dem heimischen Sofa“ bin ich sofort dabei! Denn wie du weißt, habe ich an Gipfelkreuzen auch schon Erstaunliches bis Ärgerliches erlebt. Wenn man einen Gipfel bestiegen hat, auf dem man nur wenige Schritte machen kann, ohne abzustürzen, finde ich es ja ok, sich ans Kreuz zu klammern. Aber auf Fellhorn, Besler und Co. muss das einfach nicht sein. Mein letztes Erlebnis: Meine Wanderbegleitung wollte mich und meinen Hund vor einem Gipfelkreuz mit schönem Alpenpanorama fotografieren, aber eine Dame hatte ihre Sonnencreme ausgepackt, den Rucksack auf den Sockel des Kreuzes gestellt und cremte sich genussvoll und ebenfalls das schöne Panorama betrachtend exakt neben dem Kreuz von Kopf bis Fuß ein… Als sie merkte, dass wir ein Foto machen wollten, ging sie ein wenig zur Seite, ließ aber die Sonnencreme und den Rucksack im Bild stehen. Das ist eine traurige Steigerung zu den Gipfelkreuzsitzer*innen: die Gipfelkreuzcremer*innen… ok, das ist jetzt missverständlich. Vielleicht fällt dir was Besseres ein. Ich bin gespannt, ob wir demnächst Leute entdecken, die am Gipfelkreuz ihre Fußnägel schneiden oder ihre Beine rasieren?

Vielleicht besteige ich aber in Zukunft nur noch Gipfel ohne Kreuze – es gibt ja doch einige. Neulich erst war ich auf einem, wo nur ein Wegweiser stand. Also ganz im Sinne Reinhold Messners und der Freidenker, die religiöse Symbole auf Berggipfeln kritisieren. Und die Aussicht ist ja auch ohne Kreuz ganz schön.

In dem Roman, den ich dir heute empfehlen möchte, geht es um ganz andere Probleme. Ehrlich gesagt, hatte ich ein wenig Angst vor diesem Buch, vor allem wegen des Titels „Lügen über meine Mutter“ und der Kurzzusammenfassung, dass das alles beherrschende Thema das Körpergewicht der Mutter sei. Will man so etwas wirklich lesen, bzw. – wie in meinem Fall – anhören? Schon nach dem ersten Kapitel war klar, dass die 12 Stunden ein wirkliches Hörerlebnis werden würden, weil der Roman von Daniela Dröscher außerordentlich gut geschrieben ist. Und völlig zu Recht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht.

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der 1977 in einem kleinen Dorf im Hunsrück geborenen Ela. Sie wächst in einer Familie auf, die auf den ersten Blick „normal“ wirkt. Bei näherer Betrachtung aber wird deutlich, dass die Eltern ihre nicht funktionierende Beziehung auf dem Rücken ihres Kindes ausleben und man wünscht sich mehr als einmal, dass die Mutter diesen Vater doch endlich verlässt. Das Problem des Vaters: Seine Frau ist zu dick. Findet das Grundschulkind Ela ihre Mutter noch wunderschön, macht sich die Heranwachsende die Sicht des Vaters immer mehr zu eigen und fängt tatsächlich auch an, sich für die trotz der vielen Diäten immer dicker werdende Mutter zu schämen. Wir Leser*innen haben da noch überhaupt keine Vorstellung davon, ob und wie dick die Mutter denn in Wirklichkeit ist. Der Vater jedoch bezichtigt seine Frau, Schuld daran zu sein, dass es mit seiner Karriere nicht klappt, weil sie zu dick sei und ihn nie zu Veranstaltungen begleiten könne. Dieses Streitthema wird so auf die Spitze getrieben, dass man als Leser*in teilweise fassungslos ist ob der Gemeinheiten, Unverschämtheiten und Übergriffigkeit. Denn der Vater zwingt seine Frau zum Beispiel, sich vor seinen Augen regelmäßig zu wiegen und verspricht ihr seine Unterstützung bei einem Problem nur für den Fall, dass sie abnimmt. Das ist so ungeheuerlich, dass man es fast nicht glauben mag. Aber schnell wird auch klar, dass der Streit ums Thema Körpergewicht eine Stellvertreterfunktion einnimmt und das ist wirklich spannend.

Und die Mutter? Sie ist klug, fleißig, geschickt und so groß wie ihr Körperumfang ist auch ihr Herz. Sie wehrt sich durchaus und verwüstet zum Beispiel den Garten ihrer Schwiegermutter, als diese ihr übel mitspielt und auch ihrem Mann gibt sie oft energisch Contra. Aber sie ist eben auch gefangen in Lebensentwürfen, in gesellschaftlichen Konventionen und kann oder will sich nicht aus dieser Situation befreien. Sie opfert sich für ihre Kinder, versorgt zudem ein vernachlässigtes Nachbarskind wie ihr eigenes, pflegt ihre demente Mutter und hält nach außen die Fassade aufrecht. Ihre Revolution besteht darin, dass sie dick ist.

„Würden alle Frauen dieser Erde morgen früh aufwachen und sich in ihren Körpern wirklich wohl und kraftvoll fühlen, würde die Weltwirtschaft über Nacht zusammenbrechen.“ Es sind Sätze wie diese, die aus diesem sowieso schon guten autofiktionalen Roman einen großartigen machen. Die Geschichte einer Kindheit im Hunsrück von 1984 bis 1988 ist an sich schon mitreißend und gut erzählt, durch die Reflexionen über gesellschaftliche Konventionen, Familie und eben das Körpergewicht von Frauen erhält der Roman noch eine zusätzliche Ebene, die auch bei den Leser*innen gedanklich einiges in Gang setzen wird. Manches verstört und schmerzt, anderes werden vor allem diejenigen lieben, die auch in den 80er Jahren aufgewachsen sind: Boris Becker und das Tennisfieber, Hubba Bubba und Denver Clan.

Ein starkes Buch über Familie, soziales Milieu und die patriarchale Gesellschaft. Und über die Fiktion an sich. Denn als die Tochter zu Beginn ihre Mutter auffordert, endlich die Wahrheit über ihr Leben zu erzählen, weil sie sonst lügen müsse, meint die Mutter: Nur zu, das ist doch dein Beruf.

Dieser Roman ist ein Muss für alle, die in den 80er Jahren aufgewachsen sind, weil man sich in so vielem wiedererkennt. Dieser Roman ist aber auch ein Muss für alle übrigen. Den Deutschen Buchpreis hat er auf alle Fälle verdient!

So, morgen werde ich gleich auf drei Gipfel (mit Kreuzen) in den Allgäuer Alpen steigen und bin jetzt schon gespannt, was ich dort so alles erleben werde. Ich halte dich auf dem Laufenden!

Liebe Grüße

Petra

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INFOS ZUM HÖRBUCH:
TITEL: LÜGEN ÜBER MEINE MUTTER
AUTORIN: DANIELA DRÖSCHER
SPRECHERIN: SANDRA VOSS
VERLAG: ARGON

Erschienen: 18.08. 2022

ISBN: 978-3-7324-5953-7

Preis: 20,95 (Hörbuch), 24,00 (gebundenes Buch), 19,99 (E-Book)

Umfang: 11 Std. 41 Min., 448 Seiten

Hinweis: „Lügen über meine Mutter“ wurde mir umsonst als Rezensionsexemplar vom Argon Verlag und netgalley.de zur Verfügung gestellt.

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