Kurzrezension: Sahar Mandûr: Ein Mädchen namens Wien

Wie schafft man es, mit 52 Jahren sein gesamtes Leben auf knapp 90 Seiten so zu beschreiben, dass Leser*innen das Gefühl haben, einen wirklich intensiven und umfassenden Eindruck zu erhalten? An dieser Aufgabe würden viele scheitern, nicht so die 1977 in Beirut geborene Schriftstellerin Sahar Mandûr. Temporeich und wortgewaltig vermittelt uns ihre Ich-Erzählerin, das Mädchen mit dem Namen Wien, die wesentlichen Erlebnisse, Eindrücke und Erfahrungen von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod. Dass so eine Erzählung nicht ohne Witz und Ironie auskommen kann, ist klar. So ist das Erste, was die gerade geborene Wien noch im Kreißsaal zu hören bekommt, dieser Satz: „Verflucht der Mann, dem Töchter geboren werden!“ Wenige Seiten später geht es bereits um die Wahl des Zweiges in der Oberschule und die Enttäuschung der Eltern, weil Wien sich für Geisteswissenschaften entscheidet, was ihre „Wahlmöglichkeiten an der Universität einschränken“ würde. Kommentar der Erzählerin: „Hatten sie denn nur für einen Augenblick erwartet, dieses zwischen ihren Händen eingeklemmte Mädchen könnte Ingenieurin werden? Kernphysikerin? Die erste arabische Astronautin? Vielleicht. Schließlich ist doch das Affenbaby in den Augen seiner Eltern eine Gazelle.“

Nur wer so treffend formuliert, kann in wenigen Sätzen Komplexes auf den Punkt bringen. Fast atemlos begleitet man Wien an die Uni, in die arrangierte Ehe, ins wilde Nachtleben von Beirut. Aber auch auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft, nach Geborgenheit und Rückhalt, den sie kurzzeitig in einer religiösen Gemeinschaft zu finden meint. Doch ihr starker Freiheitswille lassen sie der Religiosität bald den Rücken kehren: „In dem Augenblick, als ich mir das Kopftuch runterriss, spürte ich, wie mir der Wind ins Gehirn wehte. Ein Gefühl von Grenzenlosigkeit durchzog mich.“

Eine bereichernde Lektüre, die uns Leser*innen ein Frauenleben im Libanon nahebringt, das sich in so vielem von unseren westlichen Leben unterscheidet. Und eine nachdenklich stimmende Lektüre, die eine Frau beschreibt, die uns in ihren Gedanken, Gefühlen und ihrem Drang nach Selbstbestimmung so ähnlich ist.

Diese Erzählung fasziniert auch sprachlich, was nicht zuletzt an der hervorragenden Übersetzung von Hartmut Fähndrich liegt.

Unbedingte Leseempfehlung!   

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INFOS ZUM BUCH:
TITEL: EIN MÄDCHEN NAMENS WIEN
AUTORIN: SAHAR Mandûr
ÜBERSETZUNG: HARTMUT FÄHNDRICH
ILLUSTRATIONEN: DOMINIQUE ROSSI
VERLAG: EDITION FAUST

Erschienen: 29.07. 2022

ISBN: 978-3-949774-05-8

Preis: 20,00 (Hardcover)

Umfang: 96 Seiten

Hinweis: „Ein Mädchen namens Wien“ wurde mir umsonst als Rezensionsexemplar vom Verlag Edition Faust und Birgit Böllinger (Büro für Text und Literatur Augsburg) zur Verfügung gestellt.

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