Liebe Uli,
mein Buchtipp „Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher hat den Deutschen Buchpreis leider nicht erhalten. Vielleicht hat deine letzte Empfehlung, „Geschichte eines Kindes“ von Anna Kim in Österreich mehr Glück. Wenn man bei der Verleihung eines Buchpreises von Glück sprechen kann. Die Brisanz der Thematik spielt wohl doch eine sehr entscheidende Rolle.
Auf alle Fälle hat mich dein Brief daran erinnert, dass auch unsere deutschsprachigen Nachbarländer interessanten Lesestoff zu bieten haben. Vielleicht sollten wir bald eine literarische Dienstreise nach Wien unternehmen und uns nach dem Besuch einer Buchhandlung in ein schönes Kaffeehaus setzen und uns durch die österreichischen Neuerscheinungen schmökern?
Natürlich bei einer Tasse Wiener Melange. Oder doch lieber bei einem Franziskaner, einem überstürzten Neumann oder einem Fiaker? Unglaublich, was die österreichischen Kaffeehäuser alles anbieten. Dass du gerne Kaffee trinkst, weiß ich. Wie sieht es aber mit einem Stück Apfelstrudel oder Sachertorte aus? Mein Eindruck ist, dass Kuchenessen heute nicht mehr in ist. Ich habe ja früher sehr gerne Kuchen gebacken und gegessen, jetzt aber auch ein eher zwiespältiges Verhältnis zu süßen Backwaren. Die Tatsache, dass in unserer Stadt ein Traditionscafé nach dem anderen schließt, hat vielleicht nicht nur mit Personalmangel und gestiegenen Kosten zu tun.
Die letzten Tage habe ich mir viele Gedanken über Kuchen gemacht. Du wirst es schon ahnen. Ein Buch ist schuld daran: „Zweckfreie Kuchenanwendungen“ von Yeoh Jo-Ann, einer jungen Schriftstellerin aus Singapur. Ich weiß, dass du ein Faible für außergewöhnliche Titel hast, schon deshalb solltest du den Roman lesen. Würden wir uns jetzt gegenübersitzen, ließe ich dich spekulieren, worum es wohl in einem Buch mit so einem schrägen Titel geht…
Gleich vorweg: Der Roman, der im Englischen „Impractical Uses of Cake“ heißt, hat mir sehr gut gefallen. Schauplatz ist Singapur, der Protagonist namens Sukhin, aus dessen Perspektive erzählt wird, ein 35jähriger Lehrer für englische Literatur. Er lebt allein, hat keinen Spaß an seinem Beruf, wirkt unglücklich, einsam und misanthropisch. Seine Bücher ersetzen soziale Kontakte und in seinem Schulbüro sitzt er oft lesend unter seinem Schreibtisch, damit Kolleg*innen gar nicht erst auf die Idee kommen, ihn zu kontaktieren. Seine Eltern sind weder mit der Wahl seines Berufes glücklich noch können sie verstehen, dass er immer noch nicht geheiratet hat. Der arme Kerl ist gefangen in den gesellschaftlichen Erwartungen und in seinem Protest dagegen.
Um seiner Mutter einen Gefallen zu tun, trifft er sich eines Abends mit einer Frau, die er bei einer Familienfeier am Buffet kennengelernt hat. Der Abend mit dieser potenziellen Ehefrau verläuft ok, dann geschieht etwas, das Sukhin deutlich macht, nicht mit der richtigen Frau zu speisen: Sie erklärt ihm beim Nachtisch, dass sie keinen Kuchen mag:
„Stirnrunzelnd verzehrte er den Rest seines Zitronenkuchens, während seine Gedanken einen Sprung machten von Kuchen als Nachtisch zu Kuchen als einer Art Bindeglied zwischen Menschen. Seinen Menschen jedenfalls – offenbar gab es tatsächlich Menschen, die nicht begriffen, wozu Kuchen gut war, die das einfach nicht begriffen und deshalb niemals Zutritt zur Kuchengemeinschaft haben, niemals seine Menschen sein würden.“
Dass es jemanden gibt, der sowohl seine Liebe zu Kuchen als auch die zu Büchern teilt und dessen Gegenwart sogar Sukhin angenehm ist, wissen die Leser*innen längst: Sukhins Jugendliebe Jinn, die in seinen Gedanken und Rückblenden immer wieder auftaucht und die er eines Tages völlig unerwartet bei einem Einkauf in Chinatown trifft. Jinn, Tochter aus reichem Hause, die nach der Schulzeit bei der Event-Agentur einer Freundin der Familie gearbeitet und dort Partys für reiche und gelangweilte Menschen organisiert hat, lebt nun mitten in Singapur in einem Haus aus Kartons neben einer Tiefgarage.
Nach anfänglichem Schock bekommt Sukhins Leben durch dieses Treffen eine völlig neue Dynamik. Er versorgt Jinn mit selbstgebackenen Kuchen und Essen und bekommt durch sie Einblick in die Welt der Obdachlosen. Die Kontrastierung ihrer beider Lebensverläufe und Persönlichkeiten und die Rückblenden in ihre Jugend macht die Spannung in diesem Roman aus. Dabei ist dieser nie moralisierend oder bewertend, wir Leser*innen erleben die Geschehnisse durch Sukhins eingeschränkte Sicht und werden daraus unsere ganz persönlichen Schlüsse ziehen.
Insgesamt eine sehr vielschichtige Lektüre, nie schmalzig-süß oder zu tragisch-bitter, eher wie die fluffig-leichten Biskuitkuchen, die Sukhin zubereitet. Eine Prise Humor ist auch dabei, vor allem Sukhins Kollege Dennis trägt dazu bei. Essen spielt eine große Rolle. Und Literatur, vor allem Gedichte. Großartig, die letzte im Buch beschriebene Schulstunde, die Sukhin vor Oberstufenschüler*innen hält und in der er ein Gedicht von Cyril Wong vorliest. Dieser Roman verfolgt keinen Zweck und ist dabei ungemein beeindruckend und nachwirkend – eine zweckfreie Literaturanwendung sozusagen.
Ich hoffe, der Ausflug nach Singapur hat dir gefallen. Ich bin gespannt, wohin es bei dir im nächsten Brief geht!
Deine Petra

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INFOS ZUM BUCH:
TITEL: ZWECKFREIE KUCHENANWENDUNGEN
AUTORIN: YEOH JO-ANN
ÜBERSETZUNG: GABRIELE HAEFS
VERLAG: KRÖNER
Erschienen: 14.10. 2022
ISBN: 978-3-520-62501-4
Preis: 24,00 (gebundene Ausgabe)
Umfang: 320 Seiten
Hinweis: „Zweckfreie Kuchenanwendungen“ wurde mir umsonst als Rezensionsexemplar vom Alfred Kröner Verlag und Birgit Böllinger (Büro für Text und Literatur Augsburg) zur Verfügung gestellt.