Glattauers neuester Roman
Wahrscheinlich unterscheiden wir uns nur unwesentlich von den in der Toskana urlaubenden Familien Binder und Strobl-Marinek, den Protagonist*innen in Daniel Glattauers neuestem Roman „Die spürst du nicht“. Gut situiert, erfolgreich im Beruf, gehobene Mittelklasse, die sich schon mal etwas gönnt. Es geht einem gut, man weiß aber, dass nicht jeder so viel Glück im Leben hatte. Und so wird kurzerhand Flüchtlingskind Aayana aus Somalia, eine Schulfreundin Sophie Luise Strobl-Marineks, mit in den Urlaub genommen, ob sie und ihre Eltern das nun wollen oder nicht. Schließlich muss sich doch jemand darum kümmern, dass das Kind schwimmen lernt. So weit, so gut gemeint. Denn bereits am ersten Abend entlarven sich die österreichischen Gutmenschen in ihren Gesprächen. Wie gut kennen sie denn eigentlich Aayana, die so ruhig und brav ist, dass man sie gar nicht spürt? Und ist das Mädchen tatsächlich eingeladen, weil die Strobl-Marineks selbstlos etwas Gutes tun wollen? Oder dient die Einladung letztendlich nicht einfach nur dazu, um sich selbst zu bestätigen, dass man auf der richtigen Seite steht.
Der Urlaub findet ein tragisches, jähes Ende, als Aayana unbemerkt in den Pool geht und ertrinkt.
Was dieses Unglück mit den beiden Familien macht und wie sie damit umgehen, nimmt den größten Teil der Geschichte ein. In die Handlung flicht Glattauer immer wieder Zeitungsberichte mit Kommentaren ein. Letztere könnten direkt aus den Kommentarspalten sozialer Medien entnommen sein. Hier versteht es Glattauer die Leser*innen trotz des ernsten Themas immer wieder zum Grinsen zu bringen.
Und so haben die ersten zwei Drittel des Buches mich wirklich begeistert, auch wenn mir die Darstellung der Charaktere manchmal ein wenig zu klischeehaft erschien.
Doch ab einem gewissen Punkt war mir vieles zu konstruiert und der Fortgang der Handlung beruhte zu sehr darauf, dass bestimmte Menschen sich absichtlich oder unabsichtlich begegnen. Darüber hätte ich um der guten Geschichte willen noch hinwegsehen können. Leider wurde für meinen Geschmack aber aus ein wenig dann doch irgendwann allzu klischeehaft, manchmal geradezu moralisierend. Fast schon als hätte der Autor Sorge, dass die Leserschaft zarte Nuancen und Zwischentöne nicht wahrnehmen könnte. Insbesondere als die somalische Mutter von der ergreifenden und traurigen Flucht der Familie erzählt und auch als der Anwalt der Familie seine Beweggründe darlegt, weshalb er die Flüchtlingsfamilie vor Gericht vertritt, fühlte ich mich vom Autor fast schon ein wenig in meiner intellektuellen Auffassungsgabe unterschätzt und hatte das Gefühl, dass dieser dem EQ seiner Leserschaft nicht wirklich vertraut.
Empfehlenswertes Hörbuch
Was mich jedoch etwas versöhnt hat, war die Hörbuchausgabe des Hamburg Hörbuchverlags. Großartig, wie Tessa Mittelstaedt jedem Charakter eine eigene Stimme verleiht. Dazwischen die ironisch vorgetragenen Online-Berichte von Steffen Groth, die der besonderen Komposition des Romans Rechnung tragen.
Mein Fazit: Hörenswert, aber nicht ganz so gut, wie ich mir das bei Daniel Glattauer erhofft hatte.

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INFOS ZUM HÖRBUCH:
TITEL:DIE SPÜRST DU NICHT
AUTOR: DANLIEL GLATTAUER
SPRECHER/IN: TESSA MITTELSTAEDT, STEFFEN GROTH
VERLAG: HÖRBUCH HAMBURG
Erschienen: 30.03.2022
ISBN : 978-3957132949
Umfang: 527 min
Hinweis: „Die spürst du nicht“ wurde mir umsonst als Rezensionsexemplar von Hörbuch Hamburg und netgalley.de zur Verfügung gestellt.
Mal wieder eine ausgezeichnete Buchbesprechung, in der Stärken und Schwächen mit gut nachvollziehbaren Begründungen dargelegt werden.
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